Fastenaktion - Das Bußfasten - aus dem Tagebuch

Gespeichert von Matthias-W Engelke am

„Mein Fasten ist ein Bußfasten. Ich versuche die Motive und Gründe zu verstehen, die dazu führen, dass Menschen Atomwaffen entwickeln, sie konstruieren, transportieren, warten, mit ihnen üben, die Befehle zu ihrer Pflege und möglicherweise Einsatz geben und derer, die politische Verantwortung dafür tragen, dass Atomwaffen immer noch in Europa und weltweit stationiert sind. Ich möchte die Menschen erreichen, die mittelbar und unmittelbar mit Atomwaffen zu tun haben und lade dazu ein umzukehren und gemeinsam den Weg zu gehen, der zu einer atomwaffenfreienWelt beiträgt. Dieser Weg – das habe ich von Jesus von Nazareth gelernt – ist ein Weg des Friedens, wenn er mit Frieden anfängt und nicht mit Abschreckung und Drohung blockiert wird.“

So in meinem Grußwort zum Wiener-Hiroshima-Gedenktag am 6.8.2013.

Was ist daraus geworden?

In Forum Pazifismus Nr. 38, II/2013 fand ich folgende Passage:

„Drei Aspekte führen aus meiner Sicht zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer bewaffneten militärischen Auseinandersetzung: Neben der Abtrennung der emotionalen Komponenten von den Folgen des soldatischen Handelns und der Aufweichung bzw. Zerstückelung von Verantwortlichkeiten ist in diesem Zusammenhang die Reduzierung eigener Verluste zu nennen.“
in: Manfred Pappenberger: Schattenkriege im 21. Jahrhundert. Die Automatisierung des Krieges durch Drohnen und Roboberwaffen, FP 38, II/2013, S. 39

Dazu heißt es weiter:

„Die Abspaltung der Gefühle vom Denken bzw. Handeln bewirkt eine humane Deformation, weil sich eine Denkweise entwickelt, die durch keine emotionale Kontrolle rückgekoppelt ist. Umgekehrt ist die Abspaltung der Gedanken von der  Gefühlswelt ebenso problematisch, weil jede Einseitigkeit die Möglichkeit zur Pathologie begünstigt. Gefühle ohne Gedankenrückkopplung lassen den Psychopathen und Gedanken ohne Gefühle den Soziopathen, den Kriminellen entstehen. ... Das Phänomen des Ausblendens der Gefühlswelt führt zu einer zunehmenden Schizophrenisierung militärisch Handelnder, weil die emotionale Komponente der Akteure mehr oder weniger umfassend von ihrer Persönlichkeit abgetrennt wird. Die Kriegsbereitschaft des Individuums steigt in dem Maße, wie es gelingt, das Einfühlungsvermögen in den anderen auszuschalten.“
in: ebd., S. 40

Zum Thema „Zerstückelung von Verantwortlichkeiten“ heißt es weiter:

„Die militärische Sozialisation ist nicht nur auf den Verlust der Selbstachtung durch soldatische Rituale, militärischen Drill und Schikanen ausgerichtet, sondern zielt darüber hinaus auf den Abbau der Tötungshemmung. Das militärisch System ist gekennzeichnet durch eine extrem hierarchische Struktur und das Prinzip „Befehl und Gehorsam.“ Die Bomberpiloten Paul Tibbets (Hiroshima) und Charles Sweeney (Nagasaki) haben so viele Menschen getötet wie sonst niemand in der Geschichte der Menschheit. In einem Interview sagte Sweeney: „Ich bin Soldat, und Befehl ist Befehl; ich habe gemacht, was ich tun musste.“ Und er fügte hinzu: „Jeder Soldat der Welt würde so handeln.“ (aus: Drewermann, Eugen:Krieg ist Krankheit, keine Lösung, Freiburg i. Br. 2002, S. 56f)...[Es] liegt die Verantwortung des Soldaten nicht in den Konsequenzen des Befehls, sondern lediglich in der Art seiner Ausführung. Der Soldat sieht (noch) was er tut, trägt selbst dafür aber nicht die Verantwortung, sondern der Befehlsgeber, der aber nicht sieht, was getan wird.“
in: Pappenberger, Manfred, ebd., S. 40

Die Abspaltung der Gefühle vom Denken ist nicht typisch für das Militär, genauso wenig wie die Aufspaltung der Verantwortlichkeit. Beides wird bereits in der Schule eintrainiert, wo  Stundenplan, Lernziele, Zeugnisse und Bewertungen wichtiger sind als Neugier, Lernfreude und das eigene Tempo im Erfassen und Begreifen von Zusammenhängen. Wenn in einem gut geführten Kindergarten und in den ersten Jahren in einer emotional stimmigen Grundschule noch sehr darauf geachtet wird, dass die Lernschritte eines Kindes mit der emotionalen Entwicklung mithalten und umgekehrt, wird auf diese Gleichzeitigkeit nur wenige Jahre später kein Gewicht mehr gelegt. Dort, wo es deswegen zu „Störungen“ kommt, müssen Fachleute her, die als Sozialarbeiter oder Schultherapeuten bzw. Schulseelsorger ein Ungleichgewicht wo es offenbar geworden ist beim Einzelnen auszugleichen, aber nicht das System „Schule“ zu verändern haben.

Ich erinnere mich an die ersten Schritte in meine Schule. Dort fand ein Schultest statt. Ich musste meine Hand über den Kopf legen und versuchen mit Ohr auf der anderen Seite zu fassen zu bekommen. Das sollte angeblich zeigen, ob ein Kind schulreif ist. Dann bekam ich einen Spiegel vorgesetzt und sollte mich selber abzeichnen. Wie sollte das gehen? Ich sah mich im Spiegel und sah die Differenz dazu in meiner Zeichnung und fühlte mich maßlos überfordert. Irgendwie werde ich die Aufgabe absolviert haben, aber ein gutes Gefühl hat es nicht hinterlassen. Es wäre schon anders gewesen, hätte die Aufgabe etwa gelautet: „Probiere mal aufzumalen, was Du im Spiegel siehst, wenn Du hineinschaust!“ Und schon wäre es spielerisch gewesen und hätte die Neugier angesprochen. Ich hatte eine Lehrerin, die ich über alles mochte. Trotzdem hielt ich mich sehr lang auf der Toilette auf und empfand dabei nichts Schlimmes. Erst als ich merkte, dass ich gesucht wurde und man sich erkundigte, ob es mir denn gut ginge, nahm ich wahr, das hier wohl irgendetwas im Argen liege, ich wusste nicht was. Ich stritt mich mit Mitschülern darüber, dass die Sonne sich nicht um die Erde drehe, sondern umgekehrt und wurde ausgelacht, das könne man doch sehen, dass es anders sei. Niemand bezog meine Partei, die Lehrerin vertröstete mich, das würde noch später kommen. Dies kleine Ausschnitte vom ersten Schuljahr. So mag es eine Fülle an Erlebnissen im Alltag jedes Schülers und jeder Schülerin geben. Aber nie hatte ich als Schüler mit einem Lehrer oder einer Lehrerin „die Schule“ vor mir stehen, sondern ein kompliziertes Geflecht von Verantwortlichkeiten, die ich bis heute nicht überblicke geschweige denn durchschaue und eine Fülle von Ereignissen im Gedächtnis – manche tief hinabgesunken in alltägliche Gewohnheiten – in denen die Differenz zwischen Gedanken und Gefühlen keine Rolle spielte.


Bereits in der Odyssee werden die Götter gelobt, weil bei ihnen beides immer im Einklang sei. Es mögen vor allem zwei Erfahrungen sein, die eine mögliche Abspaltung der Gefühlswelt von der Welt der Gedanken aufheben können:
- Wenn auf der Seite der Gefühle ein Schrecken zu einem Umdenken führt
- und wenn auf der Seite der gedanklichen Welt ein Rätsel, eine Frage, eine neue und ungeklärte Situation alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann geht dies meistens mit starken Emotionen einher.

In beiden Fällen wird in jeglicher Armee dieser Welt vorgesorgt:

Das ist auf der einen Seite vor allem der Drill: Der Drill sorgt dafür, dass vorgefasste Handlungsabläufe auch dann funktionieren, wenn der Schreck normalerweise einen Menschen z. B. lähmt. Das kann in dem einen Fall Leben retten – so beim Flugzeugunglück in Ramstein am 28. August 1988, wo Soldaten selbst in großer Nähe zum Unglücksort überlebten, weil sie drillgemäß sich auf den Boden warfen und Schutz suchten statt fort zu rennen, wie es die die meisten Zivilisten taten, die dann oft an den hohen Verbrennungen ihres Rückens starben ; im anderen Fall trägt es dazu bei, die beschrittene Bahn nicht zu verlassen, innerhalb der aufgenommenen und für gültig akzeptierten Regeln zu bleiben.

Und auf der anderen Seite ist es genau das Gefüge von Befehl und Gehorsam, das im Falle einer unvermuteten und herausfordernden Situation ein Umdenken verhindert, indem die Aufgabe – neu zu überlegen und zu erfassen, was nach dem eigenen Gefühl und Wissen das Angemessene ist – an seine bzw. ihre Vorgesetzten und deren Entscheidungen abgegeben wird. Im besten Fall findet eine „Meldung über ein besonderes Vorkommnis“ statt und damit hat der Soldat erst einmal seine Pflicht getan – und die Chance die beiden getrennten Welten von Fühlen und Denken neu aufeinander abzustimmen, sie ins Gleichgewicht zu bringen, systemgemäß vertan - verspielt.

Auch dies ist nicht etwas, das fürs Militär typisch ist. In der Kirche wird Ähnliches geleistet: Hier ist es das Ritual, das ähnlich stabiliserend wirkt – für den Liturgen genauso wie für die Gottesdienstfeiernden. Nur so ist es möglich nach großen Katastrophen – wie nach dem Amoklauf in Winnenden am 11. April 2009 – eine Feier zu gestalten, die bundesweit gesendet und wahrgenommen worden ist. Gesetze, die es Schützenvereinen nicht mehr erlauben würde, mit großkalibrigen Pistolen zu üben, sind bis heute nicht verabschiedet worden.

Auf der anderen Seite sind es komplizierte Geflechte von Gremien, Kirchengesetzen, Gewohnheiten und Einflusnehmerinnen und –nehmern, die es dem einzelnen leicht machen, in ungeklärten und neuen Situationen die Aufgabe, darauf stimmig zu reagieren, auf andere zu verschieben und sich selbst erst einmal zurück zu ziehen.

Mein Verhalten während des Bußfastens war vorausschaubar, verlässlich und berechnbar. Ich verteilte Briefe jeden Morgen vor Dienstbeginn. Meine Briefe enthielten erwartungsgemäß die Ermutigung, Befehlen, die mit Atomwaffen zu tun haben, keine Folge zu leisten. Neu war allenfalls der in diesem Jahr zum ersten Mal beschrittene Weg, sich dazu so zu äußern, dass Vorgesetzte keine Möglichkeit haben einen Soldaten deswegen schon im Vorfeld zur Rechenschaft zu ziehen. Soldaten wurden mit dem Schrecken der Atombombe nur schriftlich konfrontiert – anders wäre es, wenn im Einfahrbereich großformatige Bilder gezeigt oder wenn für die Soldaten, die nachts den Atomwaffenstützpunkt verlassen,  auf Flächen entsprechende Bilder projiziert werden würden.

Vielleicht wäre es anders, wenn ich mit Hilfe von Satire die Situation ad absurdum führen würde, z. B. mit einem Ankreuzverfahren, wieviele Tausende von Toten ich denn beim Abwurf einer Atombombe bereit wäre in Kauf zu nehmen. Dies verbunden mit der Ankündigung, denjenigen, der die Höchstzahl ankreuzt,  umgehend zum obersten General der Bundeswehr zu befördern. Doch Satire erreicht in der Regel nur diejenigen, die sowieso der gleichen Meinung sind – bei anderen perlt es ab bzw. setzt Aversionen frei. Die wieder auszuräumen ist, wenn überhaupt möglich, dann meist sehr mühsam.

Ich setze auf den Weg, der - verglichen mit der schier alles zerstörenden Gewalt der Atomwaffen - nur als ein Weg der Ohnmacht beschrieben werden kann im Vertrauen darauf, die Gewissen der Soldaten, Bürger und Politiker zu erreichen und mich selbst der Frage auszusetzen, wo ich umzukehren habe. In diesem Jahr war es vor allem zweierlei: Der Zusammenhang der Atomkette und die weltweite Unterdrückung von Mensch und Natur durch Atomindustrie und Atomwaffenlobby war mir noch sie so deutlich geworden, wie in diesem Jahr. Das andere ist die unheilvolle Abspaltung der Gefühls- von der Gedankenwelt. Die Ohnmacht zeigte sich mir im Fasten als Kraft, die sich auf das konzentriert, was fürs Leben und den Frieden unverzichtbar ist, im Gespräch, im Gebet, in der Stille.