Ostermarschreden von Clemens Ronnefeldt in Mannheim und Bochum

Gespeichert von Helmut Brinkma… am

 

Liebe Friedensinteressierte,

ich habe in diesem Jahr zwei sehr unterschiedliche Ostermarschreden gehalten:

In Mannheim am 30.3.2024 zum Thema Ukraine und Nahost - mit Schwerpunkt Aspekte sozialer Verteidigung sowie Entwicklungen für einen Waffenstillstand.

In Bochum am 31.3.2024 zum Thema "Medien im Krieg".

Beide Reden hier zur Information:

Ostermarschrede am 30.3.2024 in Mannheim 

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde in Mannheim, 

die Verantwortlichen des heutigen Ostermarsches in Mannheim haben mich gebeten, in meiner Rede auf Aspekte sozialer Verteidigung und Entwicklungen zu einem Waffenstillstand einzugehen.

Im ersten Teil meiner Rede möchte ich diesbezüglich auf die Ukraine eingehen, im zweiten Teil auf das Thema Nahost. 

1. Ukraine 

Was wollte und will die Zivilbevölkerung in der Ukraine? 

Der Grundsatzbeschluss zur Nato-Beitrittsperspektive der Ukraine 2008 erfolgte auf dem Bukarester Nato-Gipfel gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Zwei Drittel der Bevölkerung in der Ukraine standen der Aufnahme ihres Landes in die Nato im Jahre 2008 skeptisch bis ablehnend gegenüber (1). 

Im Jahre 2015 führte das Kiewer Internationale Institut für Soziologie (KIIS) eine repräsentative landesweite Umfrage durch, in der zum ersten Mal die Einstellungen der Menschen in der Ukraine für den Widerstand im Falle einer ausländischen bewaffneten Invasion und Besetzung ihres Landes ermittelt wurden. 

Die Ergebnisse zeigten eine überraschend starke Unterstützung für eine Alternative zur bewaffneten Verteidigung: die gewaltfreie Verteidigung unter ziviler Führung. 

Im Falle einer Besatzung des Landes lagen mit 26% die Befürworter*innen von zivilem Widerstand mit Demonstrationen, Märschen, Boykott, Streik und zivilem Ungehorsam knapp vor denen, die mit 25% angaben, sich im bewaffneten Widerstand zu engagieren.

12% sagten, sie würden sich eher in sichere Regionen der Ukraine bewegen, 3% wollten ins Ausland, 19% entschieden sich für die Antwort „ich weiß es nicht“, 13% gaben an, nichts zu tun und 2% gaben keine Antwort. 

Auf die Frage, welche Art des Kampfes gegen eine Besatzung durch einen stärkeren ausländischen Gegner sie für effektiver halten, entschieden sich 35% der Befragten für zivilen Widerstand und 34% für den bewaffneten Kampf, 29% gaben an „ich weiß es nicht“ und 2% antworteten nicht (2). 

Im Februar 2022 – wenige Tage vor dem russischen Überfall – wollten 37% der Bevölkerung sich militärisch verteidigen, die übrigen fast Zweidrittel entweder sich zivil verteidigen, in sichere Regionen oder ins Ausland sich zurückziehen – bzw. wussten keine Antwort (3). 

Drei Tage nach dem Völkerrechtsbruch durch die russische Armee, die ihr souveränes Nachbarland am 24. Februar 2022 überfiel, wandte sich der Sprecher der ukrainischen pazifistischen Bewegung, Dr. Yuri Sheliazhenko, an seinen eigenen Präsidenten und an den russischen Präsidenten mit der Botschaft: „Redet miteinander“ und forderte direkte Verhandlungen. 

Von Beginn an gab es in der ukrainischen Zivilgesellschaft gewaltfreien Protest, besonders in den Großstädten Cherson und Saporischschja. 

Eine Studie zu den gewaltfreien Aktionen zwischen Februar und Juni 2022 unter Mitarbeit u.a. der Universität in Jena dokumentiert landesweit 148 Proteste und Diskussionen zwischen der ukrainischen Zivilbevölkerung und den russischen Besatzungssoldaten, 51 gewaltfreie Interventionen und 36 Aktionen der Nicht- Zusammenarbeit mit den Besatzungstruppen (4). 

Gewaltfreier Widerstand der Zivilgesellschaft in Russland 

Auch in Russland gibt es zivilen Widerstand gegen den Krieg. Bekannt geworden ist die Nachrichtensprecherin Marina Owsjannikowa, die ein Plakat in die Kamera des russischen Fernsehsenders hielt: „Kein Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen. Russen gegen Krieg“. 

Hochverrat - so lautet der Vorwurf, den Abgeordnete des Rates des Bezirks Smolninskoje im Zentrum von St. Petersburg gegen Wladimir Putin erhoben. Sie stimmten am 7. September 2022 dafür, eine Petition an die Staatsduma der Russischen Föderation zu richten. 

Sie enthält die Aufforderung, den russischen Präsidenten des Amtes zu entheben - wegen seines militärischen Vorgehens gegen die Ukraine, das in Russland nicht als Krieg, sondern nur als "militärische Spezialoperation" bezeichnet werden darf. (5) 

Tausende von Kriegsdienstverweigerern in Russland, Belarus und der Ukraine verweigern sich aktuell dem Krieg. Sie verdienen Asyl in den Ländern, in die sie geflohen sind. 

Aktuelle Entwicklungen 

Ende Februar 2024 reiste der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis nach New York, traf sich mit UNO-Generalsekretär Antonio Guterres und rief die Staatengemeinschaft dazu auf, in der Ukraine auf Frieden hinzuarbeiten (6). 

Wenige Tage zuvor war eine Studie des „European Council on Foreign Relations“ erschienen, die in 12 Ländern Europas eine repräsentative Befragung zum Inhalt hatte: „Im Durchschnitt glauben nur noch zehn Prozent der in zwölf europäischen Ländern Befragten, dass die Ukraine über Russland triumphieren wird. Doppelt so viele sagen dagegen einen russischen Sieg vorher“ (7). 

Am 26.2.2024 erschien die F.A.Z. mit der Überschrift: „Selenskyj kann sich Friedenskonferenz mit Russland vorstellen“. Die zentralen Aussagen Selenskyjs lauteten: „Im Frühjahr wolle man in der Schweiz eine erste, eine ‚Eröffnungskonferenz‘ in einem Friedensprozess abhalten. 

Dort werden die Länder ein gerechtes Dokument vorstellen‘; er meinte offenbar einen Entwurf für einen Waffenstillstand. 

Erst auf einer zweiten Konferenz, ‚vielleicht auf einem anderen Kontinent‘, könne dann Russland zu den Verhandlungen hinzugebeten werden. Diese Ideen seien eine Initiative der Ukraine, betonte Selenskyj. 

Es liege ihm daran, dass der Prozess früh im Jahr beginne, ehe in wichtigen Ländern – damit meinte er offenbar auch die USA – Wahlen stattfänden und womöglich ein Land mit einer Friedensinitiative starte, dessen Interessen denen der Ukraine zuwiderliefen“ (8). 

Am 27.2.2024 titelte die Berliner Zeitung: „Schweizer Außenminister: ‚Es gibt geheime Friedenspläne für den Ukraine-Krieg‘“ (9). 

Am 8.3.2024 berichtete die SZ: „Der ukrainische Präsident ist zu Gesprächen mit seinem Kollegen Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul gelandet. (...) Das Präsidentenbüro in Kiew bestätigte den Besuch und die Gespräche für eine mögliche Friedenslösung. 

Als Schwerpunkte aus ukrainischer Sicht wurden der geplante Friedensgipfel in der Schweiz, die Sicherheit der Schifffahrt im Schwarzen Meer und die Freilassung ukrainischer Kriegsgefangener genannt“ (10). 

Die US-Wahlen am 5.11.2024 werfen ihre Schatten auf den Ukraine- Krieg. Die US-Regierung unter Präsident Biden hat großes Interesse, den Krieg zu beenden, bevor möglicherweise Donald Trump ins Amt kommt. 

In den nächsten Wochen und Monaten braucht es das massive Einwirken von China, Indien und Ländern des globalen Südens auf Russland, Zugeständnisse für einen Waffenstillstand zu machen und von Maximalforderungen wie der Anerkennung der vier annektierten Oblaste durch die ukrainische Regierung abzusehen. 

Die EU und vor allem Deutschland als größter Waffenlieferant der Ukraine nach den USA - pro Kopf der Bevölkerung sogar noch vor den USA - hat ebenfalls starke Möglichkeiten der konstruktiven Einwirkung auf die ukrainische Regierung bezüglich deren Verhandlungsbereit- schaft. 

Nicht zu unterschätzen ist die Zivilgesellschaft in Deutschland und die Herstellung eines öffentlichen Meinungsklimas, das die Notwendigkeit von Verhandlungen und die Bereitschaft zur Beendigung der Kampfhandlungen und des unsäglichen Leides durch einen Waffenstillstand in das Zentrum der Berichterstattung rückt. 

Vor allem Rolf Mützenich braucht unsere Unterstützung in Form von Briefen an ihn persönlich und von Leserbriefen an Medien, die für eine Fortsetzung des Krieges plädieren. 

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, 

ich komme zu meinem zweiten Punkt: dem Thema 

2. Nahost 

Unser Mitgefühl gilt den Familienangehörigen der mehr als 1200 getöteten Opfern der Hamas-Terrorangriffe vom 7.10.2023, allen Verletzten und Traumatisierten. 

Wir dürfen nicht nachlassen, die Freilassung aller noch gefangen gehaltener Geiseln zu fordern. 

Stephan Wahl ist deutscher katholischer Priester, der in Jerusalem lebt. In seinem Beitrag in „Christ in der Gegenwart“ zitiert er einen jungen Mann aus dem Gazastreifen, der an eine befreundete Israelin nach dem Massaker der Hamas vom 7.10.2023 schrieb: 

"Ich weiß, meine Worte ändern nichts und bedeuten wenig, aber es tut mir so unglaublich leid, was mein Volk eurem Volk antut.“ 

Stephan Wahl schreibt weiter: 

„Der junge Mann aus Gaza war einverstanden, dass seine israelische Freundin seine berührenden Zeilen in den Sozialen Medien postete. Ich wünschte, diese Stimmen wären lauter, wären ohrenbetäubend laut.“

„Das Angebot, ausgeflogen zu werden, habe ich abgelehnt. Nach stundenlangem Schlangestehen mein Blut gespendet zu haben, gibt ein winzig kleines Gefühl, nicht sinnlos hier zu bleiben.“ (11). 

Etliche Angehörige der Geiseln haben sich nach dem Massaker vom 7.10.2023 zu Wort gemeldet – und fordern von der israelischen Regierung den Verzicht auf Rache. 

In einer Trauerrede für ihren Bruder Hayim, einen im Kibbuz Holit ermordeten Aktivisten gegen die Besatzung, forderte Noi Katsman ihr Land auf, »unseren Tod und unseren Schmerz nicht dazu zu benutzen, den Tod und den Schmerz anderer Menschen oder anderer Familien zu verursachen. 

Ich fordere, dass wir den Kreislauf des Schmerzes durchbrechen und verstehen, dass der einzige Weg [vorwärts] Freiheit und gleiche Rechte sind. Frieden, Brüderlichkeit und Sicherheit für alle Menschen.« 

Ziv Stahl, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Yesh Din und Überlebender des Höllenfeuer in Kfar Aza, sprach sich in einem Artikel in »Haaretz« ebenfalls entschieden gegen Israels Angriff auf Gaza aus. 

»Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, nichts wird diejenigen zurückbringen, die weg sind«, schrieb sie. »Die wahllose Bombardierung des Gazastreifens und die Tötung von Zivilisten, die an diesen schrecklichen Verbrechen unbeteiligt sind, ist keine Lösung.“ 

Michal Halev, die Mutter von Laor Abramov, der von der Hamas ermordet wurde, warnte in einem auf Facebook geposteten Video unter Tränen: »Ich flehe die Welt an: Hört auf mit all den Kriegen, hört auf, Menschen zu töten, hört auf, Babys zu töten. 

Krieg ist nicht die Antwort. Mit Krieg kann man keine Probleme lösen. (...) In meinem Namen will ich keine Rache.« (12). 

______________________________________________________

In den letzten fünf Monaten sind im Gazastreifen mehr als 32 000 Menschen getötet worden und mehr als 70 000 wurden verwundet. 

Allen Verletzten und den Familienangehörigen der Getöteten gehört unser Mitgefühl, unser Einsatz zur Linderung der Not über Organisationen wie Medico International – und unsere Bereitschaft, dem Grauen ein Ende zu bereiten. 

Die Wochenzeitung die Zeit berichtete am 26.3.2024:

 „Die UN-Sonderberichterstatterin für die palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, sieht ‚vernünftige Gründe‘ für die Annahme eines israelischen Völkermords im Gazastreifen. Das israelische Vorgehen zeige ‚Muster der Gewalt‘, schrieb Albanese in einem Bericht mit dem Titel ‚Anatomie eines Völkermords‘. Militär und Regierung verstießen bewusst gegen das Kriegsrecht ‚in dem Versuch, die völkermörderische Gewalt gegen das palästinensische Volk zu legitimieren‘" (13). 

Der Beschluss des UN-Sicherheitsrates für einen sofortigen Waffenstillstand, gegen den die US-Regierung kein Veto einlegte, wird von der israelischen Regierung ignoriert. 

Gemeinsam mit der Friedenskooperative in Bonn fordere ich vom heutigen Ostermarsch in Mannheim die Bundesregierung auf, sich einzusetzen für: 

  • Die Deeskalation und einen sofortigen Waffenstillstand, einschließlich des Stopps der Angriffe auf Gaza, 
  • die Freilassung aller Geiseln, 
  • den Schutz von Zivilist*innen, 
  • die Einrichtung von Korridoren für die sichere Lieferung von dringend benötigten und lebenswichtigen Hilfsgütern nach Gaza, 
  • die Einhaltung und Wahrung des Völkerrechts, insbesondere der Genfer Konventionen, 
  • sowie unabhängige Ermittlungen zu Kriegsverbrechen. (14). 

Darüber hinaus braucht der israelisch-palästinensische Konflikt endlich eine dauerhaft gerechte Lösung, zu der neue diplomatische Anstrengungen notwendig sind. 

In Deutschland können wir den Menschen eine Stimme geben, die gemeinsam auf beiden Seiten für die Existenz und die Menschenrechte sowohl der israelischen wie der palästinensischen Bevölkerung eintreten: 

z.B. Combatants for Peace (Kämpfer für den Frieden), Trauernde Eltern – oder das gemeinsame israelisch-palästinensische Dorf „Oase des Friedens“ (Neve Shalom/Wahat al-Salam). 

____________________________________________________

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, 

ich möchte am Ende meiner Rede noch einmal zentrale Forderungen der Friedensbewegung zusammenfassen: 

Es erscheint mir sehr wichtig, dass wir neben dem, wogegen wir uns richten, immer auch deutlich machen, wofür wir stehen – und ich bitte euch, mit Klatschen oder Zustimmungsrufen euch noch einmal laut zu äußern, hinter welchen Forderungen auch ihr steht: 

Jeder Friede fängt mit einem Waffenstillstand an; das gilt für die Ukraine, für den Nahen Osten und für die vielen anderen Kriege im Jemen, im Kongo und anderen Länder. Daher: Für Waffenstillstände jetzt! 

Für Rüstungskontrolle und Schritte zur Abrüstung – und das Verbot von Rüstungsexporten. 

Für den Stopp der weiteren Aufrüstung der Bundeswehr und für die Umwidmung des 100 Milliarden-Pakets in ein Investitionsprogramm für Jugend, Soziales und Umwelt! 

Für eine neue europäische Sicherheitsordnung – mit der grundlegenden Neuausrichtung nicht gegen, sondern mit Russland. 

Für den Stopp der nuklearen Aufrüstung und den Abzug der US- Atombomben aus Deutschland. 

Für den Verzicht auf die Anschaffung neuer US-amerikanischer F 35- Kampfjets für den Einsatz der in Deutschland stationierten Atombomben durch die Bundeswehr. 

Für den Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag der UNO! 

Für die Einbeziehung der militärischen Klimaschädigung in die Umweltbilanz aller Länder, bei der Deutschland eine Vorreiterrolle einnehmen könnte. 

Für die Stärkung der Demokratie und eine Gesellschaft ohne Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit sowie den Respekt aller Menschen. 

Für die Unterstützung der Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus allen Kriegsgebieten! 

Für zivile Krisenprävention und eine Kultur des Friedens! 

Für eine Umverteilung von Reichen zu Armen - und höhe Steuern für Millionäre sowie beim Vererben. 

Für eine Umgestaltung des weltweiten Finanzsystems, das so viele Wunden schlägt. 

Für die Freilassung von Julian Assage und aller Journalistinnen und Journalisten, die Unrecht anprangern und deswegen verfolgt werden. 

Ostern ist das Fest des Lebens über den Tod! 

Ich wünsche uns langen Atem in unserer Friedensarbeit – eine Friedensarbeit, die dem Leben, der Zukunft unserer Kinder und Enkel sowie künftiger Generationen dient – und unseren Planeten Erde vor weiterem Artensterben und einer großen Klimakatastrophe bewahrt. 

Ich danke Euch fürs Zuhören!

 --- 

(1) https://www.dw.com/de/nato-beitrittsdebatte-spaltet-ukraine/a-3242047

(2) https://www.nonviolent-conflict.org/blog_post/ukrainians-vs-putin-potential-for-nonviolent-civilian-based-defense/

 

 

Ostermarschrede in Bochum am 31.3.2024

 Medien im Krieg 

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, 

die Veranstalter des heutigen Bochumer Ostermarsches haben mich gebeten, über das Thema „Medien im Krieg“ zu sprechen. 

Im Jahr 2013 schrieb Uwe Krüger seine Promotionsarbeit: "Medienmacht" - Eine Dissertation über die Verflechtungen von Leitmedien, Politik und Wirtschaft. 

Dabei hat er u.a. die vier Journalisten Stefan Kornelius (Süddeutsche Zeitung), Klaus-Dieter Frankenberger (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Michael Stürmer (Die Welt) und Josef Joffe (Die Zeit) und deren Verflechtungen in transatlantische Netzwerke sowie in die Wirtschaft untersucht. 

Auf Seite 23 schreibt Uwe Krüger: 

"Der Rechercheur Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung konstatiert, es gebe 'immer öfter komplizenhafte Verstrickungen zwischen Wirtschaftsführern, Politikern, Werbeindustrie und Journalisten' (...) Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister kommt zu der Schlussfolgerung, dass sich eine 'geschlossene Gesellschaft' herausgebildet habe." 

Die Verstrickungen zwischen Politik und Leitmedien macht Uwe Krüger an folgendem Beispiel deutlich: 

"Der Wohnzimmerkreis ist der wohl intimste aller Berliner Hintergrundkreise. Seine Mitgliederzahl ist auf zehn Journalisten begrenzt; im Rotationsverfahren lädt jeweils eines der Mitglieder einen Spitzenpolitiker und die anderen Journalisten zu sich nach Hause ein und bekocht die Runde. (...) 

Der Turnus ist monatlich, und die Politiker kommen offenbar gern: 'ob Merkel, Steinmeier, Müntefering, Steinbrück, Schäuble und so weiter und so fort: Sie alle wurden meist mehrmals in den Wohnstuben der Journalisten bewirtet und lernten ihre Familien kennen.' (...) 

Den Kreis gegründet hat 1997 Günter Bannas (Ressortleiter Berlin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Anm.: C.R.) selbst zusammen mit einem ZDF-Korrespondenten, weil ihm 'die Journalistenkreise, in denen er verkehrte, zu groß und unübersichtlich wurden' (...) (S. 313). 

Die Verstrickungen zwischen Leitmedien, Wirtschaft und Politik verdeutlicht der Autor an folgenden Beispielen: 

"Als hoch problematisch erscheinen erstens die direkten Verbindungen zur Wirtschaft, genauer die Beratertätigkeit von Chefredakteuren und Herausgebern für gewinnorientierte Konzerne: 

Josef Joffe (Die Zeit) als Beirat der HypoVereinsbank sowie Stefan Aust (Der Spiegel) und Helmut Markwort (Focus) als Beiräte der Deutschen Telekom AG. 

Zweitens muss die Einbindung von Journalisten in eine Organisation der Bundesregierung kritisch gesehen werden, namentlich Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ), Stefan Kornelius (SZ) und Peter Frey (ZDF) als Beiräte der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, eines Think Tanks im Geschäftsbereich des Bundesverteidigungsministeriums. 

Der Beirat berät laut Akademie-Satzung das Kuratorium, das wiederum aus der Bundeskanzlerin sowie den Bundesministern der Verteidigung, des Inneren, des Auswärtigen, der Finanzen, der Justiz, für Wirtschaft und für Entwicklungshilfe besteht. 

Die drei Journalisten verpflichteten sich somit, jene Bundesregierung zu beraten, die sie doch eigentlich als Anwälte der Öffentlichkeit kritisieren und kontrollieren sollen." (S. 148). 

Der Autor kommt zu folgendem Zwischenfazit: 

"Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass sich die deutsche Politik in einem 'Korsett von Innen- und Bündnispolitik' (...) bzw. einer unbequemen Sandwich-Position befindet: Von 'oben' macht die Nato mit der Führungsmacht USA Druck, dass Deutschland bei Kampfeinsätzen seinen Beitrag leisten solle, auch dann, wenn keine akuten deutschen Sicherheitsinteressen vorliegen; von 'unten' behindert ein Wahlvolk, das die Bundeswehr am liebsten als Landesverteidiger und Katastrophenhelfer sieht. 

Hinzu kommt, dass das Grundgesetz (entsprechend dem Zeitgeist der unmittelbaren Nachkriegszeit) die deutsche Politik auf den Frieden verpflichtet und ein klassisches, enges Verständnis der Begriffe 'Sicherheit' und 'Verteidigung' aufweist." (S. 154f.) 

Uwe Krüger schreibt als Fazit: „Wenn Kritik an der Bundesregierung oder der deutschen Politik geübt wird, dann aus der Perspektive von USA und Nato, nicht aus einer militärskeptischen Perspektive.“ 

Wie unangenehm seine Doktorarbeit für Josef Joffe von „Der Zeit“ war, zeigte sich an der Sendung „Die Anstalt“ im April 2014, die darauf Bezug nahm mit einem Schaubild - und die Verstrickungen Joffes offenlegte. Josef Joffe und auch sein Kollege Jochen Bittner verklagten das ZDF – und verloren den Rechtsstreit (taz, 10.1.2017).

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, 

ich möchte ein zweites wichtiges Buch im Zusammenhang des Themas „Medien im Krieg“ vorstellen: 

"Die vierte Gewalt" von Richard David Precht und Harald Welzer 

„Die Leitmedien berichten nicht mehr über Politik, sie machen sie. Die Leitmedien bauschen auf, was in Social Media diskutiert wird und blenden aus, was ‚Mehrheitsmeinung‘ ist. Und: 

Die Macher der Leitmedien orientieren sich nicht an der Realität, sondern nur an der Meinung ihrer Kolleginnen und Kollegen in anderen Leitmedien. 

Das sind die Zentralthesen von Richard David Precht und Harald Welzer. 

‚Man orientiert sich an der wahrscheinlichsten, plausibelsten Auffassung, die alle teilen können. Und wenn das erst einmal losgegangen ist, dann einigt man sich darauf. Und dann passiert es sehr schnell, dass diejenigen, die die Meinung nicht teilen, als Abweichler interpretiert werden und man das abwehren muss‘, so Harald Welzer. 

‚Es wird unglaublich viel Moral darauf verwendet zu zeigen, dass man gerade die richtige, gute Position hat, und alle anderen falsch liegen oder sogar problematische Charaktere haben‘, sagt Richard David Precht. 

‚Und das ist ein Mechanismus, den wir für bedenklich halten. Denn die moralische Rigorosität, die mit der Mehrheitsmeinung im Journalismus einhergeht, die tut sicher dem sozialen Kitt in unserem Land nicht gut.‘" (1) 

Die beiden Autoren sprechen von „Cursor-Journalismus“. In Zeiten, in denen Printmedien Stellen abbauen, überlegen es sich Journalist*innen zweimal, ob sie von der Mehrheitsmeinung einiger weniger Leitmedien abweichen wollen – mit dem Risiko beruflicher Nachteile. 

Die Verlagerung vom Print- zum Online-Journalismus hat für Precht und Welzer in Bezug auf Kriegsberichterstattungen einige Nachteile bezüglich der Qualität der Berichte. 

Schnelligkeit geht vor Gründlichkeit – weil in der Regel jedes Medium das erste sein möchte mit einer Meldung bei der Kriegsberichterstattung. Wer nicht schrill formuliert, wird weniger beachtet. 

Am Ende des Tages fragen die Chefs der Online-Dienste nach Klickzahlen von veröffentlichten Artikeln – um höhere Preise bei der Werbung auf diesen Seiten fordern zu können. 

Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen wurden Stellen von Auslandskorrespondent*innen und Kriegsberichterstatter*innen abgebaut, u.a. wegen zu hoher Kosten. 

Kriegsbilder sind heute sehr billig und einfach von Menschen zu erhalten, die lediglich ein Handy haben. Allerdings ist auch die Gefahr der Manipulation gestiegen – weil sich die Herkunft der Bilder nur schwer überprüfen lässt. 

Auch renommierte Medien sind bereits auf Fälschungen hereingefallen und haben Bilder gezeigt, die Jahre zuvor in einem anderen Kriegskontext entstanden waren. 

Die beiden Autoren Precht und Welzer haben von den kritisierten Leitmedien nach der Veröffentlichung ihres Buches – wenig verwunderlich - sehr viel Kritik bekommen, manchmal aber auch verbunden mit der Aussage, dass sie ein wichtiges Buch geschrieben hätten. 

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, 

ich komme zu meiner drittten Quelle zum Thema „Medien im Krieg“: Lord Arthur Ponsonby 

  • Arthur Ponsonby, Staatssekretär in verschiedenen britischen Ministerien, hat 1928 Grundsätze der Kriegspropaganda aus seinen Erfahrungen des 1. Weltkrieges heraus gesammelt, die von der belgischen Historikerin Anne Morelli zu zehn Thesen zusammengestellt wurden: 
  • Wir wollen den Krieg nicht 
  • Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung 
  • Der Führer des Gegners ist ein Teufel 
  • Wir kämpfen für eine gute Sache 
  • Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen • 
  • Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich 
  • Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm 
  • Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache 
  • Unsere Mission ist »heilig« 
  • Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter. (2) 

Mir scheint, dass diese zehn Grundsätze nach rund einem Jahrhundert noch immer in ihren Grundaussagen gültig sind. 

In Deutschland arbeitet als eine weitere wichtige Quelle zum Thema „Medien im Krieg“ Dr. Sabine Schiffer zu diesem Thema. 

In der IMI-Ausdruck-Ausgabe vom Dezember 2023 schreibt sie unter der Überschrift: 

Kriegsanlasslügen und Übertreibungen – Gräuelpropaganda für mehr Krieg 

„Man darf an dieser Stelle verallgemeinern, dass alle Kriege mit Lügen beginnen. Diese können False-Flag-Operationen sein, wie der sog. Tonkin-Zwischenfall 1964 oder der Angriff auf den Sender Gleiwitz am 1. September 1939. 

Zu den echten Kriegsanlasslügen gehört prominent die Brutkasten-Story der PR-Agentur Hill & Knowlton, eine erfundene Gräuelgeschichte über Baby-meuchelnde irakische Soldaten 1991. Dazu gehören auch – weniger bekannt – falsche Massaker-Bilder im Kosovo-Krieg 1999, die zur ersten Teilnahme der Bundeswehr an einem sog. robusten Auslandseinsatz und zudem völkerrechtswidrigen NATO-Krieg genutzt wurden. 

Auch das Aufbauschen von realen Problemen zu bestimmten Zeitpunkten kann Propagandazwecke erfüllen – die Medienwissenschaft nennt dies ‚instrumentelle Aktualisierung‘, wozu etwa das Cover des Time-Magazins 2010 mit Bibi Aisha, der Afghanin mit der abgeschlagenen Nase, zählt. 

Dieses zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ein Jahr alte Foto hat dazu beigetragen, den Afghanistan-Krieg um weitere zehn Jahre zu verlängern“. (3) 

Die Bildzeitung machte Russland für zwei Raketen verantwortlich, die von der Ukraine auf polnisches Gebiet abgeschossen worden waren. Im Original lautete die Hauptüberschrift auf der Titelseite am 16.11.2022: „ 2 Tote: Putin feuert Raketen nach Polen“. 

Der Bild-Chefredakteur Johannes Boie schrieb in seinem Kommentar dazu: „Die russische Armee hat Polen bombardiert! Zwei Menschen sind tot, ermordet! Ob ein Versehen oder nicht - dies ist ein bewaffneter Angriff auf Nato-Territorium!“ 

Es folgte keine Richtigstellung oder gar Entschuldigung des Springer- Verlages in den Tagen und Wochen danach. Das Eskalationspotential dieser Meldung war erheblich. 

Grundlegendes zur Rolle von Medien im Krieg 

Insbesondere, wenn ein Krieg beginnt, wollen Menschen schnell wissen: Wer sind die Guten, wer sind die Bösen? 

Weil Menschen sich einfühlen können, mischen sich Wut, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle – und der innere Druck: „Da darf man doch nicht tatenlos zuschauen! – Du muss man doch was tun“. 

Gerade in Kriegszeiten hätten Medien die Aufgabe, nicht in Schwarz- Weiß-Denken zu verfallen, sondern den entstandenen Krieg oder Konflikt von allen Seiten zu beleuchten. 

Auch Journalist*innen sind Menschen, die nicht nur einen kühlen Kopf bewahren können – sondern in Kriegszeiten gelegentlich Berichterstattung und Kommentar „im Eifer des Gefechtes“ vermischen. 

Medienberichterstattungen zum Ukraine- und Nahost-Krieg 

Sascha Lobo hat den Begriff „Lumpen-Pazifismus“ (4) am 20.4.2022 im „Spiegel“ geprägt. 

Er wurde vielfach übernommen, u.a. auch von „Der Welt“. Die erste Online-Überschrift in der Welt vom 27.2.2023 von Chefkorrespondent Clemens Wergin lautete noch: „Putin will nicht verhandeln. Dass müssen jetzt auch deutsche Lumpenpazifisten kapieren“. 

Drei Tage später wurden im Online-Angebot die „Lumpen“ weggelassen – und die Überschrift lautete: „Putin will nicht verhandeln. Dass müssen jetzt auch deutsche Pazifisten kapieren“. 

„Putintroll“, „Putin-Versteher“, „Hamas-Verharmloser“: Mit solchen Worten wird auch in Deutschland von einigen Medien Kriegspropaganda betrieben.

 In Russland, wo die Pressefreiheit extrem eingeschränkt ist, wird von staatstreuen Medien der Begriff „Entnazifizierung“ als Rechtfertigung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine instrumentalisiert. 

Auf den ersten Blick weniger scharf, aber nicht weniger gefährlich ist das Wort „umstritten“, das Expert*innen eines Landes oder zu einem Konflikt angehängt wird, sobald diese von der Meinung einzelner Medienorganen abweichen. 

Saudi-Arabien wird als „Stabilitätsanker“ in der Region Naher und Mittlerer Osten bezeichnet, obwohl das Land nach wie vor Menschen archaisch köpfen lässt und die Regierung offenbar den Befehl zur Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi gab. 

Wie unterschiedlich werden Besatzungsmächte – an den Beispielen Russland/Ukraine und Israel/Palästina - in deutschen Medien dargestellt. 

Fazit und Ausblick von Sabine Schiffer 

Sabine Schiffer schreibt im bereits zitierten „IMI-Ausdruck“ (Dez. 2023): „Die Nachordnung des Krieges in der Ukraine hinter den wieder aufflammenden Nahost-Konflikt steht gerade sinnbildlich für die Versäumnisse der Logik im Mediensystem. 

Die Aufmerksamkeit gilt dem Negativen und der Eskalation, nicht den stillen Entwicklungen, die zum Verständnis von Sachverhalten wichtig wären. 

Und sie gilt schon gar nicht den konstruktiven und kooperativen Gruppen, die zeigen würden, dass eine Überwindung von Feindbild- Konstellationen möglich ist bzw. war.“ 

Zu diesen zählen für mich im Nahostkonflikt u.a. „Combatants for Peace“, „Trauernde Eltern“ oder die „Oase des Friedens: „Neve Shalom / Wahat al-Salam“, über deren Arbeit ich gerne mehr in deutschen Medien sehen würde. 

So lange einige Medien im Krieg agitieren und nicht Aufklärung leisten, braucht es andere Medien wie den Freitag, die Berliner Zeitung, den IMI- Ausdruck, Telepolis und andere. 

Uwe Krüger gibt am Ende seines Buches einige Hinweise, wie die gegenwärtige Situation der engen Verflechtung von Leitmedien und Politik bzw. Wirtschaft überwunden werden könnte: 

"Der Journalist soll mit unverstelltem Blick beobachten und unabhängig von den Interessen der Steuermänner und Kapitäne aus Politik und Wirtschaft berichten und analysieren - im Interesse des ganzen Schiffs.“ Dem möchte ich mich anschließen. 

Ich danke Ihnen/Euch fürs Zuhören bei diesem Ostermarsch in Bochum. 

(1) https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Die-vierte-Gewalt-Precht-Welzer-Meinungsmache-der-Leitmedien,prechtwelzer100.html)

(2) https://www.deutschlandfunk.de/anne-morelli-die-prinzipien-der-kriegspropaganda-100.html

(3) https://www.imi-online.de/2023/12/13/ausdruck-dezember-2023-schwerpunkt-medien/

(4) https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ukraine-krieg-der-deutsche-lumpen-pazifismus-kolumne-a-77ea2788-e80f-4a51-838f-591843da8356