Rede an St. Alban von Pfarrer Dr. Matthias-W. Engelke

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© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Friedensdemonstration anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Verkündigung der militärischen„Zeitenwende“ durch Bundeskanzler Olaf Scholz am Samstag, den 25. Februar 2023

Rede an St. Alban von Pfarrer Dr. Matthias-W. Engelke

Ein öffentliches Schweigen
zur rechten Zeit am rechten Ort

kann lauter dröhnen
als der Lärm von Kampfjets und Panzern.

Wir stehen hier an der Ruine von St. Alban.

Es ist die einzige erhaltene Kirchenruine in Köln, die an die Grauen des Zweiten Weltkrieges erinnert –  St. Kolumba wurde inzwischen überbaut.

Mitten in den Ruinen: eine Doppelskulptur nach einer Vorlage von Käthe Kollwitz,
hier eine Nachbildung von 1954 von Josef Beuys und Erwin Heerich.

Käthe Kollwitz hat zu Beginn August 1914 den Krieg unterstützt.

Ihr Sohn Peter meldet sich freiwillig zum Krieg.

Schon im Oktober ist er tot,
erschossen in Belgien – auf fremden Grund – bei Dixmuiden.

Erst danach wurde seine Mutter zur entschiedenen Pazifistin.

Sie schuf für den Soldatenfriedhof im belgischen Esen-Roggeveld diese Doppelskulptur. Sie tragen die Gesichtsmerkmale der Eltern von Peter: Von ihrem Mann und ihr selbst (wie der Engel von Barlach in der Antoniterkirche).

Die Skulptur steht heute in Vladslo, Westflandern/Belgien, nachdem die Toten dorthin umgebettet wurden.

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© Davidh820, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons

Belgien wurde trotz seiner Neutralität von den Deutschen überrannt, angetrieben von der Gier nach der privaten Kolonie Kongo des belgischen Königs.

Deutsche Soldaten haben in Belgien solche Gräuel angerichtet, dass die Berichte darüber in England als Märchen abgetan wurden; Anlass – nicht Grund! – dafür war: weil belgische Zivilisten zum Erschrecken der deutschen Soldaten von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machten.

Bis heute hat sich noch kein deutscher staatlicher Repräsentant gegenüber Belgien dafür entschuldigt.

Peter Kollwitz liegt heute mit 25.644 anderen deutschen Soldaten auf dem Soldatenfriedhof in Vladso.
Wer heute nach Belgien fährt, kann mit einem Bein auf deutschem und mit dem anderen auf belgischen Boden stehen.

Mit dieser Erinnerung im Rücken ist die Frage mehr als erlaubt:

Wie viel Tote ist ein eroberter oder zurückeroberter Quadratmeter wert?

Wie viele solcher Skulpturen bedarf es noch in Europa?

Repräsentiert nicht jeder einzelne Mensch die Menschheit?

Als Soldat oder Soldatin eines Landes repräsentiert er oder sie nur noch sein Land. Ein freiwilliger Soldat ist die freiwillige Selbstentwürdigung zu einem Mittel zum Zweck; das aber darf kein Mensch sein.

Erst wenn ein Soldat und ein Kriegsbefürworter umkehrt und den Waffen und der Gewalt abschwört, leuchtet in ihnen wieder die Menschheit auf.

20 Jahre Krieg in Afghanistan, Irak und Syrien haben gelehrt,

dass mit Krieg kein Konflikt gelöst werden kann.

Nationalstaaten haben versagt das Überleben der Menschheit zu sichern (Juri Scheliashenko),
denn mit Klimakrise und Krieg und Militär: Wie soll das gehen?

Was wir z. Z. erleben, ist nicht nur ein schrecklicher Krieg in Europa,

sondern der zivilisatorische Notfall (Peter Bürger).

Es gilt sich aus der Polarisierung der Gewalt heraus zu dividieren

und als selbstverantwortliche verbindliche kommunale Gemeinschaften gewaltfrei die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen.

Aus der Polarisierung, die nur Freund und Feind kennt  
befreit im Nu, wenn wir den Blick ändern,
 
statt gebannt von der Faszination der Gewalt,
die Opferperspektive einnehmen:

Welches deutsches Kriegerdenkmal gedenkt auch der ermordeten damaligen Feinde?

In Frankreich habe ich von einem Freund das Bild solch eines Kriegsdenkmals erhalten, in Deutschland ist mir keines bekannt.

Wir hier gedenken aber aller Opfer,

gleich ob russisch oder ukrainisch, und lege dafür zusammen mit Ingrid aus Krefeld jeweils eine Rose nieder:

Für alle ermordeten und verstümmelten russischen und ukrainischen Soldatinnen und Soldaten – auch für die, die sich haben dazu erniedrigen lassen, zu Mörderinnen und Mördern zu werden // ihren Müttern // und Vätern, // Frauen und Freundinnen // und Kindern //

auch der Opfer, die durch die Folgen des Krieges leiden müssen, weil Medikamente und das Brot so teuer geworden sind.

Die Opferperspektive treibt dazu an:

An diesem Ausblick einer geschwisterlichen gewaltfreien Welt, die heute schon in verbindlichen Gemeinschaft gelebt werden kann.

Die Opferperspektive treibt dazu an, unbequeme Fragen zu stellen und darauf zu beharren:
Wer hat Nord-Stream 2 gesprengt? Wie viel Tote verlangt die Freiheit? Warum gibt es auch bei uns keine soziale Verteidigung, dass wir wehrhaft ohne Waffen sind? Warum machen Rüstungsindustrie und Ölindustrie exorbitante Gewinne und denken nicht im Traum daran es der Allgemeinheit zurückzugeben? Welche Unterstützter ermöglichen das Regime Putin und: Verhilft der Krieg dazu es aufrechtzuhalten?

Die Opferperspektive treibt uns dazu an, die Hoffnung zu leben, dass eines Tages Menschen mit einem Bein auf russischen und mit ihrem anderen auf ukrainischen Boden stehen

und sich wundern: War dieser Krieg dafür nötig?

Darum bitte ich aufgrund unserer Leidenschaft für das Leben als Zeichen der Trauer um all die Opfer

um eine Gedenkminute.