Keine Lust auf Krieg - Kapitulation als intelligente Reaktion und mutige Tat

Gespeichert von Thomas Nauerth am
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José Leonardo, The Surrender of Juliers, Museo del Prado, Madrid, 1636 (https://pixabay.com/photos/jusepe-leonardo-nature-outside-94072/)

Zu einem Krieg braucht es immer zwei Parteien. Eine schießt und eine muss zurückschießen, sonst ist der Krieg vorbei, bevor er noch begonnen hat. Diese mehr als simple Überlegung zeigt, auch der Angegriffene hat immer eine Möglichkeit, den Krieg unmittelbar zu beenden. Wer Handlungsmöglich-keiten besitzt, hat auch die Verantwortung, über diese nachzudenken. Aktuell aber scheint das Wort "Kapitulation" zu den Tabuwörtern zu zählen, spricht man es aus, denkt über Kapitulation als Handlungsmöglichkeit im aktuellen Krieg in der Ukraine nach, wird man umgehend massiv kritisiert. Wenige wagen es daher, sie brauchen schon ein so breites Kreuz, wie es der Jurist Thomas Fischer besitzt:

"Die Alternative zur Niederlage mit sehr vielen Opfern und gewaltigen Vernichtungen ist eine Niederlage mit wenigen Opfern und weniger Zerstörungen. Man könnte, mit anderen Worten: kapitulieren. Das wäre eine schlimme Niederlage vor der ungerechten Gewalt. Aber 1000 lebende Besiegte sind besser als 1000 tote. Und anders als der Tod halten Siege nie ewig." (Scholz hat recht, 08.03.2022, Der SPIEGEL) 

An solcher Position ist eigentlich nichts besonders. In der friedensethischen Tradition, die das sog. christliche Abendland geprägt hat, der "Lehre vom Gerechten Krieg" (Bellum Justum) wurde immer eingeschärft, dass der Griff zu den Waffen auch im Verteidigungsfall nur legitim sei, wenn dadurch sich erwartbar die Verhältnisse verbessern lassen.

Auch ganz unabhängig von friedensethischen Vorgaben ist von der Sache her seit langem klar, dass moderne Waffen ein etwas anderes Zerstörungspotential haben als es mit der ökologischen Variante Pfeil und Bogen gegeben war. Dies müsste doch aus sich heraus dazu führen, dass man in jedem Fall sehr sorgfältig klärt, ob ein Zurückschießen zu wünschenswerten Ergebnissen führen kann. Eine solche Klärung hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern mit Verstand. In faszinierender Weise ist dies in den ersten Folgen der norwegischen Fernsehserie "Occupied" einmal durchgespielt worden, die Aktualität bzw. der Kontrast zum aktuellen militärischen Widerstand in der Ukraine bis zur letzten Patrone, zum letzen Menschen und zum letzten Haus ist geradezu bestürzend (https://www.arte.tv/de/videos/049448-001-A/occupied-die-besatzung-staffel-1-1-10/)

Auch eine Kapitulation kostet Opfer, aber sie werden im wesentlichen von den gesellschaftlichen Eliten getragen, denn die geraten ins Visier der Besatzer. Wer nicht kapituliert, bürdet dagegen die Opfer (des Krieges) der einfachen Bevölkerung auf. Wie sehr dies belasten kann, zeigt ein aktueller Bericht aus der Ukraine. Dort wird von Gesprächen mit ukrainischen Soldaten erzählt, die sich viele Fragen stellen: "what is more important, to save our state or our people’s lives?”; "maybe the price we are paying for our unity and self-identity is too high"; "are we ready to look into the eyes of those whose relatives have died in the name of the values we are fighting for?” (Pavel Dorogoy, Faces of Kharkiv, March 26, 2022,  www.plough.com)

Kapitulation, die weiße Fahne, könnte in solcher Lage eine sehr intelligente (und mutige) Reaktion sein. Außerdem würde man nur so überhaupt eine Basis an Mensch und Material behalten, um einem Aggressor zivilen Widerstand zu leisten. Die Konzepte, wie man ohne Waffen einem Aggressor den Aufenthalt mittel- und langfristig so unangenehm machen kann, dass er seine Ziele nicht erreicht, möglicherweise sogar abzieht, sind ja alle längst geschrieben (der wikipedia Artikel über Soziale Verteidigung reicht für einen Überblick)– und teilweise gut erprobt (Kapp-Putsch 1920; Ruhrbesetzung 1923; Prag 1969 u.v.a.m.)

Es ist verwunderlich, dass nicht auch in den Friedensbewegungen häufiger davon gesprochen wird, wie intelligent es sein kann, die weiße Fahne zu hissen. Vielleicht muss man da noch mal ein wenig Geschichten einsammeln, Geschichten wie die von einem der ersten katholischen Mitglieder des Versöhnungsbundes, Herrmann Hoffmann, Priester des Bistums Breslau:

Ostern 1945, Breslau, zur Festung erklärt, brennt; die Lage ist aussichtslos, täglich sterben mehr Zivilisten als Soldaten. Da kommt ein evangelischer Theologe auf den Gedanken, sie, die Pfarrer und Priester, katholisch wie evangelisch, haben jetzt die Pflicht zum Kommandanten der Festung zu gehen und die Übergabe zu fordern. Hermann Hoffmann ist ganz dafür, meint aber man müsse möglichst hochrangige Geistliche schicken, Hoffmann gewinnt einen Weihbischof und einen Domherren. Der Kommandant, den die ökumenische Delegation heimlich auf gefährlichem Weg aufsucht (die po­li­ti­sche Führung, der Gauleiter, durfte nichts erfahren), ist freundlich, er sehe die Lage ähnlich dramatisch. "Aber er sei Soldat und dürfe nicht handeln, wie er wolle, sondern wie seine Vorgesetzten wollten." Ob er, der Kommandant, denn noch Möglichkeiten sehe, die Fes­tung zu halten? Die kurze Antwort: "Keine mehr!" Da verliert die Delegation ihre Fassung: "Herr Kommandant, wenn das ihre Meinung ist, wie können sie es wagen, noch einen einzigen Tag länger zu kämpfen und auch nur ein einziges Menschenleben ohne jede Aussicht zu opfern? (…) der Herr, der unser Ge­wissen zwingt, zu reden, wird auch von Ihnen, Herr Kommandant Rechenschaft fordern für jedes Menschenleben, das sie unnötig opfern!"

Der Kommandant geht in sich, versammelt am nächsten Tag alle Kommandeure der einzelnen Truppenteile, holt dann einen der Pfarrer zurück und lässt ihn zu allen Kommandeuren sprechen. Dann gibt er den Befehl zur Übergabe der Festung.

Der II Weltkrieg ist für Breslau zu Ende.

nach: Herrmann Hoffmann, Im Dienst des Friedens. Lebenserinnerungen eines katholischen Europäers, Stuttgart, Aalen 1970, 311/312