Aktion „Leben ändern“

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von Leo Petersmann, Foto: Hildegard Delbeck, Witzenhausen

Ort:

Marktplatz Witzenhausen

Zeit:

12-13 Uhr, ab 17.5.22 täglich (außer sonntags und bei Abwesenheit)

Material:

Stuhl, Kissen, bunter Schirm, Schild: „Wir müssen unser Leben jetzt ändern“, Postkarten „10 Tipps für nachhaltiges Leben“

Leben ändern FotoBisher sitze ich am Rand des Marktplatzes, der fast vollständig als Baustelle eingezäunt ist. Im Zuge von Ermschwerder/Steinstraße und Brückenstraße/Marktgasse ist ein Durchgang freigelassen. Ich sitze meist vor dem geschlossenen Marktcafé. Auf diesem Durchgang ist deutlich mehr Bewegung. Allerdings sind die Menschen immer unterwegs von A nach B. Freitags beim Wochenmarkt am Kirchplatz sitze ich dort. Da wirken die Menschen entspannter und anwesender.

An einem der ersten Tage habe ich 5 Minuten lang gezählt: Es gingen 30 Menschen vorbei. Bei etwa 90% konnte ich keine Reaktion erkennen. Ich vermute, etwa die Hälfte davon ist in Gedanken und nimmt mich nicht wahr. Und die andere Hälfte sieht im Abstand: Da will einer was von mir, das will ich nicht. Ein Teil von ihnen denkt sicher kritisch über meinen Satz.

Ich habe nach einem Monat noch keine erkennbare negative Reaktion erlebt.

Die 10%, die reagieren, äußern sich unterschiedlich:

  • Im Vorbeigehen hinschauen, lesen, lächeln oder mit dem Kopf nicken oder Daumen hoch
  • Äußerungen wie: Ja! Stimmt! Richtig! Sie haben recht! Genau!
  • Ich habe mir angewöhnt, alle positiven Worte mit „Danke“ zu beantworten. Wenn jemand langsam geht oder stehen bleibt, sage ich zusätzlich: „Schön, wenn wir uns gegenseitig bestärken.“
  • Selten bleibt jemand stehen und geht ins Gespräch.

Es gibt im wesentlichen 2 Fragen:

Warum sollen wir unser Leben ändern? Und: Wie sollen wir unser Leben ändern?

Für die erste Frage habe ich eine Standard-Antwort, ein Hinweis, was nach meiner Einschätzung passiert, wenn wir uns nicht ändern. Für die zweite Frage habe ich meine Postkarte mit 10 Tipps für nachhaltiges Leben im Alltag. Sie wird meist mit Interesse genommen, wenn sie gewünscht wird.10 Tipps

Inzwischen denke ich, ich mache das vor allem für die ohne Reaktion Vorbeigehenden. Es fällt mir manchmal schwer, unbeachtet zu bleiben. Dann werfe ich einen Blick auf meinen bunten Schirm, um mich aufzuheitern. Kürzlich sagte Kerstin, die mir den Schirm geschenkt hat: Du siehst manchmal etwas streng aus. Ich konnte das in mir wiederfinden. Vielleicht weil mir die Nichtbeachtung was ausmacht. Kinder, die weitgehend keine Beachtung finden, werden krank.
Ich finde es aber immer wieder spannend, aufmerksam zu sein für die verschiedenen Reaktionen, für das, was ich mit meiner Person vorgebe, und für das, was sich in mir bewegt.
Ich habe inzwischen verstanden, dass ich nicht wissen kann, was bei wem ankommt und vielleicht irgendwann wieder auftaucht. Und dass ich nur verantwortlich bin für das, was ich in die Welt bringe, nicht für Erfolg oder Nichterfolg.

Ich habe mir zunächst einen Monat vorgenommen. Der ist jetzt zu Ende. Ich habe mich für einen weiteren entschlossen – wenn es mir nicht vorher zu viel wird.

Einzelne Erfahrungen

Eine junge Frau: Warum sollen wir denn unser Leben ändern? Ich: Wenn wir das nicht tun, können unsere Enkel vielleicht nicht mehr auf unserem Planeten leben. Sie: Meinen Sie den Klimawandel? Ich: Ja. Sie: Da haben Sie recht. Ich: Danke.

Ein älterer Mann: Was sollen wir denn ändern? Ich gebe ihm meine Postkarte. Er geht lesend weiter. Nach 5 Minuten kommt er zurück: Kann ich noch eine Karte bekommen? Ich: Natürlich, auch drei. Er: Ich brauche nur noch eine.

Zwei junge Männer, wohl Migranten, bleiben stehen: Was sollen wir ändern? Ich gebe ihm die Karte. Er liest langsam und laut sich und seinem Kumpel vor. Nach drei Punkten zu mir: Richtig! Ich: Danke. Sie gehen weiter.

Eine junge Frau, eilig, im Vorbeigehen, mit fröhlichem Gesicht: Wir müssen unser Ändern jetzt leben! Ich war über die kreative Variation so verdattert, dass ich nicht mehr danke sagen konnte, bis sie um die Ecke verschwunden war.

Eine ältere Frau am nächsten Tag: Ich habe die Postkarte gelesen und alles verstanden. Ich finde das auch richtig. Das meiste mache ich schon. Ich weiß aber nicht, ob ich alles mache. Ich: Ich glaube, es ist wichtig, dass wir jeweils das tun, was wir tun und durchhalten können.

Ein junger Mann bleibt stehen: Sie sitzen hier öfter.Warum machen Sie das? Ich: Weil ich denke, wenn wir unser Leben nicht ändern, werden wir auf unserm Planeten nicht mehr leben können. Er: Ja, wir müssen alle etwas ändern. Ich: Ich habe mir vorgenommen, weniger in Plastik Verpacktes einzukaufen. Er: Wir müssen uns aber auch innerlich ändern. Ich: Mehr miteinander statt gegeneinander oder aneinander vorbei. Er: Danke, dass Sie das machen, alles Gute. Ich: Danke.

Ein alter Mann: Sollen wir Älteren auch unser Leben ändern? Ich: Ich glaube schon. Er: Ich finde aber, die jungen Leute zuerst mit ihren Klamotten und Feten. Ich: Ich glaube, das gilt für uns alle.

Ein junger Mann, der zum 3. Mal vorbeiging, nachdem er schon vorbei ist, bleibt stehen, dreht sich um, hält den Daumen hoch mit strahlenden Gesicht: Wir machen das, jeden Tag! Ich: Danke.

An einem Tag wurde mir die Zeit zu lang. Darf ich aufstehen oder muss ich durchhalten und sitzen bleiben? Ich bin schließlich aufgestanden, habe das Schild an die Stuhllehne gelehnt, den Schirm über die Lehne gehängt, so dass das Schild nicht wegfliegen konnte, und habe mir gesagt: Das wird niemand wegnehmen. Ich bin zum Weltladen gegangen, habe mir eine kleine Schokolade gekauft, habe die Hälfte auf dem Rückweg gegessen und den Rest auf meinem Stuhl. Ich war heiter durch die Schokolade, aber auch, weil ich mir die kleine Auszeit erlaubt habe.

Ein Mann: Ich denke, es ist schon zu spät. Ich: Das denke ich manchmal auch. Aber deshalb sitze ich hier. Wir können immer noch das tun, was wir können.

So erlebe ich immer wieder Miniaturen von Begegnungen. Es hilft mir, präsent zu sein, wenn ich auf ihre Nuancen achte, so gut ich kann. Ich übe mich zeitweise im meditativen Atmen. Und ich nähre immer mal wieder in mir den Wunsch, einen Hauch von der großen Güte des Lebens und vom Miteinander weiterzugeben. Meine Antworten sind natürlich nicht „richtig“, sondern das, was mir jeweils eingefallen ist.