Nagasaki Gedenktag

Gespeichert von Matthias-W Engelke am

6.00 Uhr Sitze vor dem Zelt und genieße meinen Extra-Trunk, eine Elektolyt-Glucose Mischung, die mir mein Arzt für die Fastenzeit empfohlen hatte. Gestern noch war ich dankbar für die regenfreie Zeit beim Verteilen. Jetzt, kurz davor, setzt Regen ein. Na fein! Krame meinen Regenumhang aus dem Zelt heraus und will mich langsam auf den Weg zum Verteilerkreis – doch irgendwie passend der Name! - machen – da hört der Regen auf. Nebelig ist’s.

6.11 Uhr Fange an zu verteilen. Bernd stellt die Banner und Transparente auf. Werner stellt sich in die Einfahrt zum Atomwaffenlager. Nach wenigen Autos schon hält der erste, es sitzen zwei drin. Zivile Mitarbeiter? Ziemlich pünktlich um 6.17 Uhr kommt der erste große Schwung Autos. Eine Stunde später habe ich von meinen ca. 8 Karten nur noch eine übrig.

Ein Soldat fährt vor, begrüßt uns – Beate war inzwischen auch gekommen – und nimmt gern den Gruß entgegen. „Jeden Morgen?!“, meine ich. „Ja, ich mag Schokolade, und ich mag die Karte.“
Er war der letzte, der etwas angenommen hat. Wenig später haben wir Schluss gemacht, ca. 7.17 Uhr.

7.52 Uhr Gestern abend haben wir uns in der Runde mit Marion Küpker noch lange darüber unterhalten, was im nächsten Jahr ansteht, möglich, sinnvoll ist, wenn die Atombomben hier immer noch liegen. Es schält sich heraus, die Fastenaktion von der geplanten Großdemonstration 2013 zeitlich zu trennen. Und ich überlege mir ernsthaft, die 4. öffentliche Fastenaktion im nächsten Jahr in Berlin vor dem Bundeskanzleramt oder dem Reichstag zu beginnen. Wenn ich am 4. oder 5.8. dann nach Büchel komme, können wir hier drei Tage lang in den Dörfern viele Handzettel verteilen. Und Beate und ich überlegen, ob wir in den Monaten davor meinen Sabbat, den Montag, dafür nutzen, um gezielt einige Leute vor Ort zu besuchen. Wir suchen den Kontakt zu Kreisen, Vereinen, Frauengemeinschaften etc. Die Stimmung hat sich verändert. Es steht an.

Martin Arnold hatte darauf hingewiesen, wie wichtig es ist in dieser Sache, den Kontakt auch und stetig zu den Politikern zu halten. Die Kampagne Atomwaffen abschaffen hat hier in der Vergangenheit schon viel geleistet. Meine Briefe – auch in diesem Jahr an den Commodore und die Bundeskanzlerin – sind nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Bislang habe ich aber auf keinen meiner Briefe eine Antwort erhalten. Vielleicht werde ich im nächsten Jahr das anders machen?

8.55 Uhr Ein Schwung junger Männer in Kampfuniform marschieren mit schweren Rucksäcken ziemlich flott an unserem Versammlungszelt vorbei Richtung Büchel. Werner, Beate und ich grüßen, einige grüßen freundlich zurück.
Hier hat sich in den Jahren die Stimmung verändert. Die letzten drei Tage habe ich beim Verteilen kein einziges abfälliges Zeichen mehr gesehen.  

8.53 Uhr Zu den schönen Momenten, die wir hier auch erleben, gehört, dass ich zweimal Zeit hatte – einmal direkt am Verteilerkreis, das andere Mal in der Nähe unserer Gedenkkerzen – Geige zu üben. Die Sonne schien so wie jetzt gerade auch. Die Wolken vom Westen her sind noch etwas grummelig, Aber die Sonnenstrahlen wärmen.

Was mir dieser Tage am Atomwaffenlager auffiel: Nachdem zwei von uns vor Tagen das gesamte Atomwaffenlager umrundet hatten, bestätigten sie, was ich bereits am ersten Tag vermutete: Zum ersten Mal – auch eine Premiere – waren hinter dem Zaun an keiner Stelle NATO-Stacheldrahtrollen verlegt worden. Das zeigt, wie groß das Vertrauen von Polizei und Bundeswehr in uns ist, dass wir uns an das, was wir vorher sagen, auch halten. Respekt vor dem Commodore und dem Standortältesten, die m.W. vor Ort letztendlich dafür verantwortlich sind.

11.02 Uhr Andacht zum Gedenken an den Atombombenabwurf auf Nagasaki. Verschiedene haben Texte, Gebete, Teile von Reden mitgebracht. Beate verliest einen Abschnitt aus einer Rede eines Überlebenden der Nagasaki-Atombombe, Kazuo Soda, und aus der Rede, die Marion Küpker genau vor einem Jahr in Nagasaki gehalten hat.

Weil wir uns mit unserer „Rede an die Stummen Fische“ auf Franz von Assisi bezogen, liest Rüdiger Lancelle ein Gedicht von Dorothee Sölle „Geschichte vom heiligen franz und der anderen freiheit“.

Auf Grund eines anderen Gedichtes, das im Rahmen dieser Andacht vorgetragen wird, Schreiben eines Kinder an seinen Präsidenten, frage ich mich: Warum haben wir nicht konsequent alle, die damit zu tun haben, danach gefragt, WARUM die Atomwaffen immer noch hier lagern? Warum haben wir kein Vertrauen in die Warum-Frage? Weil wir meinen, es ja schon längst zu wissen, warum sie hier sind? Wie soll – wenn wir die Frage nicht stellen – denn für uns und vor allem andere deutlich werden, welche Gründe es für die Verantwortlichen tatsächlich sind und ob diese stichhaltig sind. Rainer Moormann hatte uns in seinem Vortrag in Lobberich kurz vor der Fastenaktion zum Kernkraftwerk in Jülich geraten: „Fragen Sie nach! Durch ihre Nachfrage muss der Befürworter die Gründe darlegen und dann erst können diese überprüft werden.“

Wir halten zwei Gedenkminuten, für die Opfer der Atombombenabwürfe auf Nagasaki und Hiroshima und denen, die bis heute in der dritten Generation unter den Folgen dieser Atombombe zu leiden haben.

Im Anschluss halten wir eine kleine Schlussrunde. Noch keine Auswertung, die findet beim nächsten Treffen der Regionalgruppe Cochem-Zell statt. Wir sind 13 Personen. Wir hatten noch nicht angefangen, auf einmal hält ein Bundeswehrfahrzeug am Versammlungszelt. Kommt noch einmal der Verbindungsoffizier? Ein Mann ohne Uniform steigt aus. Rüdiger erkennt ihn sofort, es ist der Standortpfarrer von Büchel, demnächst von Büchel und Daun. „Sie glauben gar nicht, wieviele sich hier von denen hinter dem Zaun hierzusetzen würden“, meint er. „Und warum sitzen sie hier nicht?“, frage ich. „Das ist Solidarität mit dem Arbeitgeber.“
Jedenfalls ist das erneut eine Premiere bei diesem 3. Fasten: Der Standortpfarrer kommt vorbei.

Wenn das stimmt was er sagt, benötigen wir dringend einen wasserdichten, juristisch einwandfrei formulierten Passus, mit dem Soldaten erklären können, dass sie gegen die Atomwaffen sind und nichts damit zu tun haben wollen, OHNE dass es für sie dienstrechtliche Folgen hat. Und falls doch, dass diese auf Anhieb als illegal zu erkennen sind, z. B. als Schikane. Wer kann dabei helfen, das zu formulieren? Entscheidend ist, dass die Soldaten, wenn sie das unterschreiben, NICHT in die Kriegsdienstverweigerung gedrängt werden können, ich nehme an, dass davor die meisten zurückschrecken, weil sie dann ihre Arbeit mitsamt Einkommen verlieren. Da die Kriegsdienstverweigerung ein anderes Thema ist, sollte man das an dieser Stelle nicht miteinander verbinden. Die Schwelle, soch eine Erklärung zu unterschreiben, würde dann sehr hoch.

Wir verabschieden uns voneinander und sagen „Auf Wiedersehen“, aber eigentlich will keiner zu diesem Anlass im nächsten Jahr wieder hier sein!

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NACHTRAG – wir diskutierten irgendwann zwischendurch darüber:

PRO ATOMWAFFEN: Es sei ein Verhandlungsgut, damit die Russen ihre taktischen Atomwaffen von der Grenze zu Europa hin abziehen.

aber: Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung sollte Deutschland komplett atomwaffenfrei werden. Andreas Zumach wies in einem Referat in Lobberich – als er mit den Fahrradfahrern auf dem Weg zur NATO-Zentrale in Brüssel vor kurzem bei uns dort Station gemacht hatte – darauf hin, dass es am Widerstand vom damaligen Bundeskanzler Kohl gelegen habe, dass die nukleare Teilhabe Deutschlands nicht beendet worden sei. Leben wir unter dem Fluch dieser nicht gewollten Chance?

Tatsache ist, dass Russland keine Atombomben außerhalb seines Staatsgebietes gelagert hat und die umgekehrte Argumentation Russlands nicht von der Hand zu weisen ist: Wenn die Amerikaner ihre extraterritorial stationierten Atombomben aus Europa und der Türkei abziehen, dann kann Russland auch darüber verhandeln, dass sie ihre von der Grenze abziehen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus.

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12.14 Uhr Der Abbau fängt an. Zusammen wird das Versammlungszelt ausgeräumt und in seine Einzelteile zerlegt. Das Wetter spielt mit, es ist warm und trocken. Das ist auch für die Zelte gut. Zum Schluss gehe ich noch zu unserem Nachbar, der uns bei der großen Veranstaltung 2008, als Nina Hagen bei uns auftrat, Gelände und Gerätschaft zur Verfügung gestellt hat. Er fragt nach dem Erfolg der Veranstaltung. Mit ihm und seinem Mitarbeiter, der vor allem wissen möchte, wie wir das Fasten gestaltet haben, kommen wir darüber ins Gespräch. Ich gebe ihm eine Stapel von Flyern der Gewaltfreien Aktion Atomwaffen abschaffen, GAAA, die für die Demonstrationen 2013 am Atomwaffenlager werben.

Auf dem Weg zurück zum Auto, wartet ein junger Mann in Zivil an der Bushaltestelle. Ich spreche ihn an, weil ich vermute, dass er Soldat am Atomwaffenlager ist. Damit lag ich richtig. Ich frage ihn, ob unsere Aktion unter seinesgleichen ein Thema gewesen sei. Doch ja, und übrigens sei er auch gegen Atomwaffen. Er vermutet, dass die Amerikaner Deutschland Geld zahlen, damit die hier liegen, er könne sich keinen anderen Grund vorstellen. Ich verabschiede mich und verspreche, dass ich diese These prüfen werde, mir sei sie jedenfalls neu.

14.40 Uhr Auf der Fahrt nach Lobberich. Eben im Auto halte ich Fastenbrechen. Ein kleines Stück Zwieback. Mein Mund weiß gar nicht, was er damit anfangen soll.